Papierkinder
Als Emma und Mathilde im Armenhaus in Berlin- Steglitz ein Neugeborenes vor dem sicheren Tod retten, schweißt das die beiden Mädchen zusammen. Und auch wenn ihre Freundschaft im Lauf ihres Lebens Belastungen ausgesetzt ist: Es eint sie die Überzeugung, dass Kinder beschützt werden müssen – im 19. Jahrhundert kein selbstverständlicher Gedanke. Armut, Hunger und Kälte zwingen viele Familien, die Kinder früh zum Mitverdienen einzubeziehen. Auch Mathilde kann nicht verhindern, dass ihr Sohn Ludwig durch Austragen von Brötchen und Zeitungen und andere Hilfsarbeiten zum kärglichen Einkommen beiträgt. Als er seiner kleinen Schwester Ida den schweren Wagen mit gewaschener Kleidung, die sie austragen soll, abnimmt, verunfallt er und stirbt. Die Schuldgefühle drücken Mathilde derart nieder, dass sie beinahe daran zerbricht. Ihr Mann ist dem Alkohol verfallen, und so ist Mathilde auf sich allein gestellt. Als eine begüterte Frau, die keine Kinder bekommen kann, Mathildes jüngstes Kind Marianne zu sich nehmen will, bleibt Mathilde nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie kann ihre Kinder nicht mehr versorgen. Vor Scham bricht sie in dieser Zeit den Kontakt zu Emma ab.
Emmas Leidenschaft sind Gedichte, im Schreiben sieht sie ihre eigentliche Berufung, aber das wird eher mit Unverständnis gesehen. Und auch ihr politisches Engagement für die Rechte von Frauen und Kindern weckt nicht überall Zustimmung. Aber Emma hat zu viel Leid und Not gesehen – in den Armenhäusern, in den Kinderheimen, in den Fabriken und den Arbeiterfamilien. Sie kämpft dafür, dass sich das ändert. Und in diesem Kampf finden schließlich auch die Freundinnen Emma und Mathilde wieder zusammen. Der Autorin Julia Kröhn haben für ihren Roman drei historische Frauenfiguren als Vorlage gedient: Emma Döltz, Clara Grundwald und Eglantyne Jebb. Alle drei setzten sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Rechte von Kindern ein. Vermutlich sind sie sich nie begegnet. Aber Julia Kröhn gelingt es großartig, das Engagement der drei Frauen mit einer anrührenden Familiengeschichte zu verweben und so den Roman zu einem packenden Zeugnis jener Zeit zu machen.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Julia Kröhn
Papierkinder
Blanvalet Verlag 2023
558 Seiten, 24,00 Euro
Als Broschur-Ausgabe erschienen 2024, 15,00 Euro