Prüft alles, behaltet das Gute!
Unter diesem Titel ist im Concordia-Verlag Zwickau der Evangelisch-Lutherische Volkskalender 2025 erschienen. Er erscheint im 136. Jahrgang und wird von Pfarrer Uwe Klärner im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Freikirche herausgegeben.
Auch für 2025 werden das bekannte Format und die bewährte Gliederung des Jahreskalenders in Buchform beibehalten. In der vorderen Hälfte ist das Kalendarium zu finden, das für jeden Monat zwei Doppelseiten bereithält: die Auflistung der einzelnen Tage mit der Nennung von für die Kirchengeschichte bedeutsamen Gedenktagen und je zwei Kurzartikeln pro Monat über zumeist geschichtliche Themen. In der zweiten Hälfte des Kalenders sind insgesamt 10 Artikel zu finden, von denen 5 hier besonders erwähnt werden sollen: über die Erfurter Kaufmannskirche als Reformationsort, über den niederländischen Künstler Jan Vermeer, über die Hochzeit Martin Luthers und Katharina von Boras, eine Liedbetrachtung über den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und eine Bibelarbeit zur Jahreslosung.
Wie in solchen Buchkalendern üblich, wird auch im Ev.-Luth. Volkskalender versucht, ein breites Spektrum von Interessen anzusprechen. So gibt es ganz bewusst Artikel, die sich an Kinder wenden, Anregungen zum Singen in Gemeinschaft oder auch für Bastelarbeiten liefern. Alle Artikel des Buchkalenders sind einer von drei Textgruppen zugeordnet, die über das Inhaltsverzeichnis erschlossen werden und im Heft farblich unterschieden werden. Auffällig ist, dass der Volkskalender sich seit einigen Jahren an der Jahreslosung der christlichen Kirchen, die von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgesucht wird, orientiert, auch wenn sie im Volkskalender Jahresspruch genannt wird. Der Volkskalender schließt mit einer Selbstvorstellung der Evangelisch-Lutherischen Freikirche und dem üblichen Anschriftenverzeichnis von Gemeinden, Pfarrern und kirchlichen Institutionen.
Rezension von Gottfried Heyn
Concordia-Verlag:
Prüft alles, behaltet das Gute!
Evangelisch-Lutherischer Volkskalender 2025
136. Jg. Hrsg. v. Uwe Klärner i. A. der Evang.-Luth. Freikirche
96 Seiten, 9,90 Euro
ISBN: 978-3-947163-13-7.
Luther tanzt
Brauchen Sie auch gerade einen Schuss Glaubens-Fröhlichkeit? Dann besorgen Sie sich die CD „Luther tanzt“ und lassen Sie die Lebensfreude der reformatorischen „Volkslieder“ auf sich wirken. Funktioniert – bestimmt! Denn die Spielfreude der Playfords ist ansteckend; auch wer nicht gleich zu tanzen anfängt, wird automatisch wenigstens mit dem Fuß wippen.
Wie frisch klingt das plötzlich: „Ist Gott für mich, so trete“ – ja, da ist sie doch, die Osterfreude, die Gewissheit, dass mich nichts mehr von der Liebe Gottes scheiden kann. „Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein.“ Mit den Playfords möchte man das singen – und es glauben. Oder die Reformationshymne „Ein feste Burg ist unser Gott“, die hier nicht zum Marschieren animiert, sondern zum wissenden Lächeln, zum Mitschwingen und Mitsingen. Die Leichtigkeit der Musik passt nicht zu der „Schwere“ der Worte, könnten Puristen einwenden. Die Playfords beweisen das Gegenteil. Die Lieder erzählen doch von der Freiheit – der Freiheit im Glauben! „Lehn Dich zurück, liebe Seele, und entspanne – Gott kämpft für Dich“, heißt es dazu in dem informativen Booklet der CD.
Wenn man die Lieder in dieser Weise musiziert und gesungen hört, ahnt man, warum das Singen für die Reformation so eine immense Bedeutung hatte. Den Glauben in Verse verpackt und mit volksnahen Melodien versehen: Damit konnte man die Menschen gewinnen, auf der Straße, in den Häusern und in den Kirchen.
Die Playfords haben das Programm im Rahmen des Luther-Jubiläums 2017 aufgelegt. Vielleicht ist es mal wieder Zeit, mit Luther zu tanzen und sich die Freude am Glauben mit dieser Musik neu ins Herz zu holen.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
The Playfords:
Luther tanzt
Label, deutsche harmonia mundi, 2016
www.the-playfords.de
Zu Besuch bei Familie Luther
„Der mit der Schleife ist Paul“, sagt meine Tochter, und ich merke, wie viel schneller sie sich die Figuren der Playmobilfamilie Luther merken kann als ich. Wir lesen eine Andacht aus „Zu Besuch bei Familie Luther“. Unsere Kinder (2–7 Jahre alt) nehmen alle von den Andachten etwas mit. Es sind immer wieder so alltägliche Situationen, dass sie damit ihre eigenen Erfahrungen verbinden und gespannt sind, was als Nächstes passiert. Außerdem ist das Bild jedes Mal ganz wichtig. Jeder will es immer ganz genau angucken, und dann wird am Bild noch mal kommentiert, was da passiert ist. Auch wir Eltern nehmen von den Andachten viel mit, weil sie in einfacher Sprache die unendliche Tiefe unseres Gottes aufdecken, die auch wir Erwachsenen nicht genug erforschen können. Wer das Andachtsbuch „Mein kleiner Wegweiser“ aus dem Jahr 2013 kennt, kann vielleicht bestätigen, dass diese Andachten auf wunderschöne Weise Kinder und Erwachsene mitnehmen und ihnen die wunderbare Liebe unseres himmlischen Vaters im ganz normalen Alltag zeigen. „Mein kleiner Wegweiser“ ist mit diesem Buch gründlich überarbeitet und mit Bildern versehen, die das Lesen noch interessanter machen. Dabei ist das Grundkonzept sehr einfach. Jede Andacht erzählt uns ein Abenteuer, ein Gespräch oder irgendwas, was im Alltag der Familie Luther passiert. Dabei kommen mal einzelne und mal alle Familienmitglieder vor. Auch andere Personen aus ihrem Umfeld begegnen einem. Jede Andacht beginnt mit einer Bibelstelle, die dann durch die Familie Luther in unseren Alltag übersetzt wird. Meistens sind die Andachten so geschrieben, dass wir Eltern unseren Kindern nichts mehr erklären müssen. Sie sind aber gleichzeitig so geschrieben, dass man gut daran anknüpfen kann und das Thema weiter besprechen kann oder Unklarheiten ansprechen kann, sollten welche da sein. Was mir an dem Andachtsbuch besonders gefällt, ist die Ausrichtung: Alle Andachten spielen in der Familie Luther, es geht aber nicht um eine Verherrlichung dieser Familie. Sie sind ganz normale Menschen, die von Gottes Gnade Tag für Tag leben. Es geht jedes Mal um Gott, der die Familie Luther begleitet und versorgt und genauso auch uns heute. Durch die Andachten lernt man viel über die Geschichte der echten Familie Luther (auch wenn es nicht ein Geschichtsbuch ist), sie helfen aber in erster Linie, unseren himmlischen Vater besser kennenzulernen anhand von echten und erfundenen Ereignissen. Zwei hilfreiche kleine Zusätze:
- Das Gebet am Ende jeder Andacht bringt noch mal das, was in der Andacht vorkam, vor Gott und hilft auch den (lesefähigen) Kindern, Worte zum Gebet zu finden.
- Die Lutherrosenvermerke zeigen, welches Stück aus Luthers Kleinem Katechismus etwas zu dieser Andacht sagt. Gerade für die älteren Kinder und Eltern ist das ein schönes Sprungbrett zum Weiterdenken und Weiterverstehen.
Mir ist wichtig, dass (nicht nur) Kinder lernen, was in der Bibel steht und was das für uns bedeutet. Dieses Andachtsbuch bietet weniger das Erste und mehr das Zweite. Es werden (meistens) keine Bibelgeschichten erzählt oder besprochen, sondern biblische Wahrheiten werden in den Andachten lebendig. Trotzdem empfehle ich dieses Buch weiter und lese es auch gerne mit meinen Kindern. Es ist eine sehr gute Ergänzung zu Kinderbibeln und nimmt die Familien noch mal neu mit hinein, wie das Leben mit Gott aussieht und vor allem, wer er für uns ist: unser Retter, unser Vater, unser Versorger, unser Begleiter, unser Tröster, unser Ein und Alles.
Rezension von Simon Pfitzinger
Alrun Rehr:
„Zu Besuch bei Familie Luther“
Sola-Gratia-Verlag 2024,
228 Seiten, 13,50 Euro
Leb deine Wahrheit …
„Eine objektive Wahrheit gibt es nicht, also leb deine eigene Wahrheit.“ Das klingt gut und befreiend, oder? Genau wie „Nutze die Zeit, du lebst nur einmal“ oder „Du bist dein eigener Herr“ oder „Du sollst nicht urteilen“ oder „Nur die Liebe zählt“? Ja, solche wohlfeilen Sprüche klingen gut, und sie sind auch unter Christen mittlerweile populär.
Alisa Childers entlarvt solche plakativen Ratschläge in ihrem Buch als Lügen, die uns eben nicht frei machen, sondern ängstlich, selbstbezogen und erschöpft. Sie flüstern uns ein, dass wir uns selbst, unsere Gefühle, an die erste Stelle setzen sollen, dass wir alles in uns selbst suchen und finden können, dass wir uns selbst genügen.
An zehn gängigen Slogans zeigt die Autorin, wie leicht wir uns von Gottes Wort, aber auch von Logik und Verstand abbringen lassen. Sie rückt die „dekonstruierten“ Glaubensinhalte im Blick auf die Bibel zurecht, stellt sie wieder vom Kopf auf die Füße.
Gerade weil diese kulturellen Lügen positiv besetzte Wörter benutzen, ist es nicht immer einfach zu erkennen, wie sie deren Bedeutung umdefinieren. „Christus nachzufolgen in einer Welt, die einem sagt, man solle sich selbst an erste Stelle setzen, ist ein schwieriger Weg“, konstatiert die Autorin daher am Schluss.
Ausgehend von persönlichen Anekdoten oder von (in den USA) beliebten Filmen und Büchern, deckt Childers wunde Punkte in manchen Argumentationsketten auf. Dass man nicht urteilen soll, zum Beispiel, ist schon fast zum Mantra in unserer Gesellschaft geworden. Dabei ist die Aufforderung, nicht zu urteilen, unrealistisch, ja sie kann sogar gefährlich werden. Und sie ist garantiert nicht biblisch. Dass es aber unbequem werden kann, wenn man sich traut, etwas zu beurteilen, beschreibt Childers am Beispiel einer Rezension, die sie in ihrem Blog veröffentlichte. Sie kritisierte darin ein populäres Buch einer christlichen Autorin, weil sie zu der Überzeugung gelangt war, dass die Kernbotschaft dieses Buches das genaue Gegenteil des biblischen Evangeliums war. Mit der Unmenge an Hassbotschaften, die sie in den folgenden Wochen bekam, hatte sie nicht gerechnet.
Ja, es kann gelegentlich wehtun, sich den gängigen Slogans zu verweigern und sie zu demaskieren. Alisa Childers tut das nicht nur bibelkundig und geistreich, manchmal macht es ihr auch ganz offensichtlich Freude. Ihr dabei zu folgen auch.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Alisa Childers:
Leb deine Wahrheit und andere Lügen; Typische Täuschungen, die unser Leben in die Enge treiben
Fontis Verlag 2023, 240 Seiten, 19,90 Euro
Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche
Was für die Kirche im Osten Deutschlands längst Realität ist, wird auch im Westen zunehmend erkennbar: Die Gesellschaft ist weitgehend atheistisch. Die neuste Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat es gerade wieder bestätigt: Der Prozess der Entkirchlichung in Deutschland schreitet nicht nur weiter voran, er beschleunigt sich sogar rasant. Dabei zeigte sich in der Studie bei den Antworten der Kirchenmitglieder ein überraschendes Ost-West-Gefälle: Ostdeutsche Evangelische fühlen sich mit 82 Prozent deutlich stärker mit ihrer Kirche verbunden als Kirchenmitglieder im Westen (65 Prozent). „Die zunehmende christliche Minderheitensituation in Ostdeutschland geht inzwischen offenbar mit einer Stärkung kirchlicher Mitgliedschaftsidentität bei den verbliebenen Kirchenmitgliedern einher“, heißt es in der Studie.
Justus Geilhufe, 1990 als Pfarrerskind in Sachsen geboren, hat die Kirche der Nachwendezeit erlebt. Heute ist er Pfarrer der Domgemeinde im sächsischen Freiberg. In seinem interessanten Essay versucht er zu ergründen, was die Kirche aus den Erfahrungen der Gemeinden im Osten lernen könnte.
Die erwartbaren Verlautbarungen der Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stießen kaum noch auf Interesse, so Geilhufe, ja, er selbst möchte nicht hören, „wie das richtige Leben hier in dieser Welt funktionieren kann“.
Die Kirche verwende alle Kraft darauf, die Gesellschaft zu verändern und selbst „ein Angebot vom richtigen Leben“ zu machen. Am Ende bleibe aber keine Kraft mehr übrig, um die Menschen mit all ihren Widersprüchen zu lieben und ihnen eine Heimat zu geben in der Wahrheit, Güte und Schönheit des Glaubens. Das könne die Kirche neu lernen, wenn sie nach Osten schaue. „Zu den Gemeinden, von denen die Gesellschaft schon lange nichts mehr will. Zu den Kirchen, die den vollständigen Zusammenbruch längst hinter sich haben.“ Protestantismus heiße, so Geilhufe, „sich immer wieder neu darauf zu konzentrieren, dass das Richtige nur als das, was Gott getan hat, verkündet werden kann. Mehr nicht“. Die Kirche des Ostens habe über die Zeit getragen, was mit kirchlicher Tradition gemeint ist. „Das ruhige Vertrauen auf die Form, die überliefert ist, das Wissen darum, dass die Herausforderung von heute keine wesentlich neue ist, den Anspruch, auch angesichts einer veränderten Zeit das zu sagen, was schon immer wahr war.“
Ein sehr anregender Essay, der Mut macht, auf die Verheißungen Gottes zu vertrauen, auch in einer kleiner werdenden Kirche.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Justus Geilhufe:
Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche
Claudius Verlag 2023, 133 Seiten, 20,00 Euro
Deutsch. Eine Liebeserklärung
Das Leben sei zu kurz, um Deutsch zu lernen, soll Mark Twain einmal gesagt haben. Roland Kaehlbrandt beweist mit diesem Buch, dass man das ganz anders sehen muss. Anhand von „zehn Vorzügen unserer erstaunlichen Sprache“ zeigt der Sprachwissenschaftler, wie vielseitig, wie ausdrucksstark, ja, wie liebenswert unsere Sprache ist.
Und das sind die zehn Vorzüge der deutschen Sprache laut Kaehlbrandt: Sie ist einfühlsam und ausdrucksstark, sie ist geschmeidig in der Wortbildung, sie ist gelenkig im Satzbau, sie ist schnell und kurz, wenn es sein muss, sie ist leserfreundlich in der Rechtschreibung, sie ist normiert als Standardsprache, sie ist verfeinert als Literatur- und Bildungssprache, sie ist vielfältig und weitverbreitet, sie ist aufnahmewillig und integrationsfähig, und sie ist aus der Mitte der Gesellschaft geschaffen.
Wenn Sie jetzt bei dem einen oder anderen Vorzug gedacht haben: Was, ausgerechnet das Deutsche!? dann sollten Sie Kaehlbrandts Liebeserklärung lesen, Sie werden Ihre Sprache mit anderen Augen anschauen.
Auch Rechtschreibung und Grammatik versteht man nach der Lektüre nicht mehr (nur) als lästige Gängelei, sondern als Norm, die sich bewährt. Nur so ist es nämlich möglich, dass wir Werke früherer Zeiten, von Luther bis Goethe, noch lesen und verstehen können.
Aber gutes Deutsch ist mehr als nur richtiges Deutsch. Literatur, eine Predigt, ein wissenschaftlicher Aufsatz, ein Protokoll – jede Gattung verlangt nach einem angemessenen Stil. Auch hier bietet der Autor zahlreiche anschauliche Beispiele, die das Lesen unterhaltsam machen.
Das Porträt der deutschen Sprache, gezeichnet von einem Liebhaber, der die Porträtierte kennt wie kaum einer, und sie erstaunlich schön erscheinen lässt.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Roland Kaehlbrandt:
Deutsch. Eine Liebeserklärung
Piper Verlag 2022, 255 Seiten, 12,00 Euro
Und etliches fiel auf den Fels
Manche werden diesen Romanklassiker von Bo Giertz kennen – allerdings in einer Version ohne den letzten Teil des dritten Kapitels. Denn jetzt erst ist eine neue Ausgabe erschienen, die erstmals den vollständigen Text in deutscher Sprache vorlegt.
Im Mittelpunkt steht die Gemeinde in Ödesee in Mittelschweden. Drei Zeitabschnitte dieser Gemeinde beleuchtet Giertz: 1808 kommt der junge Hilfsgeistliche Savonius nach Ödesee und wird gleich ans Sterbebett eines Gemeindeglieds geschickt. Aber er weiß auf die Angst des Todkranken vor der ewigen Verdammnis Nichts zu antworten. Ihm fehlt das Rüstzeug, um wahren Trost zu spenden. Am Zeugnis der Schwester des Sterbenden lernt Savonius, worauf es im Glauben wirklich ankommt. Er geht als ein anderer aus diesem Sterbehaus weg, und er wird in und mit der Gemeinde noch so manche Lektion lernen. Der zweite Teil setzt 70 Jahre später ein. Wieder wird ein neuer Hilfsprediger erwartet: Pastor Fridfeldt; der ist ein Kind der Erweckungsbewegung und sehr irritiert, als der alte Pfarrer ihn fragt, woran er denn glaube. „An Jesus natürlich!“, ruft der Hilfsprediger, „ich meine – ich meine, dass ich ihm mein Herz geschenkt habe!“ Die Antwort des Pfarrers verblüfft den jungen, eifrigen Pastor: „Meinst du, dass du ihm damit wirklich etwas Rechtes geschenkt hast?“ In den Auseinandersetzungen der unterschiedlichen Strömungen in der Gemeinde lernt Fridfeldt allmählich zu unterscheiden zwischen Erweckung und Gesetzlichkeit.
Der dritte Teil schließlich setzt im Frühjahr 1937 ein. Der junge Pastor Torvik ist nach Ödesee gekommen, nachdem der Hauptpastor, eine tragische Gestalt, ganz plötzlich verstorben war. Die Gemeinde ist so verwahrlost wie das Pfarrhaus, Torvik bald frustriert und überfordert. Aber auch ihm stellt Gott Helfer an die Seite, und auch wenn es oft nicht danach aussieht, ist Gott am Werk und leitet die Gemeinde.
Bo Giertz gelingt das großartige Kunststück, anhand der (Irr-)Wege einer Gemeinde lutherische Positionen zu erklären. Nein, nicht zu erklären, sondern erzählerisch darzustellen, sodass man sie unmittelbar versteht. Die Krisen der Gemeinde Ödesee sind im Grunde dieselben Krisen der Kirche heute. Wie schnell der Glaube verdunstet, wie leicht man vom rechten Kurs abkommt und in die Irre gerät: Das war in der Kirche immer so. Und doch liest sich dieses Buch so tröstlich wie kaum ein anderes, schreibt der Hamburger Pastor Malte Detje in seinem Vorwort:
„Es ist diese Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch alle drei Abschnitte dieses Buches zieht: Wenn
wir auch große Sünder sind, Jesus ist ein noch größerer Heiland.“
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Bo Giertz:
Und etliches fiel auf den Fels
SCM Hänssler Verlag 2023, 384 Seiten, 23,00 Euro
Der Fremde aus dem Meer
Eine Luxus-Yacht explodiert weit draußen auf dem Meer, nur zehn Reisende überleben auf einem Rettungsboot. Sie haben wenig Nahrung und Wasser, und kaum Hoffnung auf Rettung. Da ziehen sie einen Mann aus dem Wasser, den niemand kennt. Er trägt keine Schwimmweste, hat keine Schrammen, und er behauptet, „der Herr“ zu sein.
Ja klar, könnte man jetzt denken, Jesus kommt aufs Boot, stillt den Sturm und rettet die Schiffbrüchigen. Wäre es so, müsste man das Buch tatsächlich nicht lesen. Aber der amerikanische Bestseller-Autor Mitch Albom strickt keine simple Jesus-ist-immer-da-Geschichte. Sein Zugang zu Glaubensfragen ist subtil, einfühlsam, unaufdringlich, und immer wieder überraschend.
Im Vordergrund steht die spannende Geschichte der Überlebenden. Geschickt erzählt Albom sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Einer der Überlebenden hält das Geschehen in einem Tagebuch fest. So sitzt der Leser quasi mit im Boot. Die Außenperspektive wird durch eingefügte Medienberichte eingenommen sowie durch den Fund des Rettungsbootes und des Tagebuchs ein Jahr nach dem Unglück. Wie diese Ebenen verwoben werden, wie immer wieder unerwartete Wendungen die Spannung erhalten, das ist großartig gemacht.
Und der Herr? Erklärt sich nicht. Er tut wenig und sagt noch weniger. Hat Hunger und trinkt von dem wenigen Wasser, das sie übrighaben. Schafft kein Flugzeug herbei, das sie rettet. Ja, er lässt zu, dass sie sterben, einer nach dem anderen.
Wie kann ein Gott so etwas zulassen? Warum greift er nicht ein, wo er es doch könnte?
Und doch passieren merkwürdige Dinge auf dem Boot. Als sie kein Wasser mehr haben, regnet es, buchstäblich aus heiterem Himmel. Aber eben nur kurz, so dass es für den nächsten Tag reicht. Als eine der Frauen im Sterben liegt und nicht mehr ansprechbar ist, bittet ihr Mann den Herrn eindringlich, dass sie nochmal aufwacht, damit er sich von ihr verabschieden kann. Das geschieht tatsächlich, zur Verwunderung aller anderen.
Ein fesselnder, bezaubernder Roman, der den eigenen Glauben, das eigene Vertrauen in Jesus, den Erretter, anfragt.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Mitch Albom:
Der Fremde aus dem Meer oder Die Macht des Glaubens
Allegria Verlag 2023, 317 Seiten, 19,99 Euro
Erholung für müde Seelen
Um ehrlich zu sein: Die ersten 40 Seiten dieses Buches kann man auch überblättern. Sie tragen Versatzstücke zusammen aus der Psychologie, der Philosophie und der Theologie zum Thema Seele, wie man sie in so manchen Ratgebern finden kann.
Wirklich zur Sache kommt Rolf Sons im Hauptteil des Buches, wo er aufzeigt, wie die Seele mit den Psalmen meditieren, klagen kann, wie sie entlastet, getröstet wird und zur lobenden, gesegneten Seele wird. Hier spürt man die eigene Erfahrung des Autors mit den biblischen Texten, hier geht es tiefer hinein in die Seelennot. Und hier, in Gottes Wort, findet sich auch die „Erholung für müde Seelen“, die der Titel des Buches verspricht.
Vielleicht erwartet man bei diesem Titel nicht unbedingt, dass der Autor einen zu den Psalmbetern – und in einem letzten Kapitel zu den Wüstenvätern – führt, und der Untertitel tut dies erst recht nicht: „Wohltuendes in christlicher Weisheit entdecken“ verspricht eher leicht temperierte Wohlfühl-Floskeln aus dem christlichen Schatzkästchen. Möglich, dass der Verlag sich dabei eine verkaufsfördernde Wirkung ausrechnete, dem Inhalt des Buches wird der Titel nicht gerecht.
Rolf Sons, Pfarrer der württembergischen Landeskirche und Autor mehrerer Bücher, braucht nicht lange, um anhand der Psalmen deutlich zu machen, woran unsere Seele krankt, warum sie unruhig ist. Er zeigt, wie das Beten der Psalmen der Angst eine Sprache verleiht, so dass sie nach außen treten darf, erkannt und angesehen werden kann. Das ist heilsam, die Klage ist heilsam, weil sie nicht nur die Gefühle der Schwermut oder Traurigkeit zur Sprache bringt, sondern auch die Erfahrung von Unrecht und Verletzung.
All dies findet sich in den Psalmen in ungeschminkter, ehrlicher Weise. Vor Gott brauchen wir uns nicht zu verstellen, nichts schönzureden. Wo wir ihm unsere Wunden, unseren Schmerz, unsere Einsamkeit, unsere Schuld hinhalten, da wird er nicht schweigen. „Was bleibt uns in aller Schuld, Verzweiflung und in aller Zerbrochenheit anderes als Gott? Er ist die einzige Adresse, bei der wir Güte und nicht Verurteilung, Annahme und nicht Vorhaltungen erwarten dürfen.“
Das ist die Vergebung, die wir letztlich suchen, das ist die Erlösung, die unsere Schuld nicht nur verzeiht, sondern sie tatsächlich auslöscht. „Der Ort, an dem dies geschieht, ist das Kreuz Jesu Christi“, schreibt Sons. Dorthin geht der Weg zur Heilung, zur Dankbarkeit und zur Freude und zum Lob. Dort findet die müde Seele nicht nur Erholung, sondern Heil.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Rolf Sons:
Erholung für müde Seelen; Wohltuendes in christlicher Weisheit entdecken
Brunnen Verlag 2023, 206 Seiten, 12,00 Euro
Über den Tod
Alle Verharmlosungen und gut gemeinten Sprüche wie „Der Tod gehört zum Leben“ helfen nicht: Der Tod bleibt „die große Zäsur“, die „große Trennung“, die „große Beleidigung“, wie es der amerikanische Pastor und Autor Timothy Keller in seinem jüngsten Buch formuliert.
Anstatt in Angst vor dem Tod zu leben oder ihn zu verdrängen, sollten wir ihn als „geistliches Riechsalz“ betrachten, schreibt Keller, „das uns aus unserem falschen Glauben aufweckt, dass unser Leben ewig so weitergehen würde“. Gegen die Angst hilft nur einer: der „Vorkämpfer“ Jesus Christus. Das versteht Keller, in werbender, wärmender, tröstlicher, glaubwürdiger Art nahezubringen. Jesus Christus hat am Kreuz den Tod besiegt.
Nein, der Tod ist nicht einfach ein Teil des natürlichen Kreislaufes. Würden unser Erschrecken und unsere Trauer dann dazu passen? „Der Tod war so nicht gedacht. Er ist unnormal. Er ist kein Freund, er ist nicht richtig. Er gehört nicht wirklich zum Kreislauf des Lebens; er ist das Ende des Lebens“, schreibt Keller und weiter: „Also trauern Sie. Weinen Sie. Die Bibel sagt uns nicht nur, dass wir weinen sollen, sondern, dass wir mit den Weinenden weinen sollen (Römer 12, 15). Es gibt eine Menge zu weinen.“ Aber: mit Hoffnung trauern! Und dafür haben wir Christen allen Grund. Diese biblisch begründete Hoffnung macht Keller in seinem Buch groß.
Kurz nachdem das Buch erschienen war, erhielt Timothy Keller die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs; am 19. Mai 2023 verstarb er. Die deutsche Ausgabe enthält als drittes Kapitel einen Artikel, den Keller angesichts der Aussicht auf seinen eigenen nahen Tod geschrieben hat. Ein berührendes Zeugnis des Glaubens, das wirklich trösten kann.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Timothy Keller:
Über den Tod. In Sterben und Tod die Hoffnung behalten
Brunnen Verlag 2023, 96 Seiten, 12,00 Euro
Heiteres aus dem Gemeindeleben
Ja, doch, das Gemeindeleben hat auch Heiteres zu bieten! Man muss bestimmte kirchliche und pastorale Gewohnheiten nur etwas zuspitzen und so liebevoll karikieren, wie das Tobias Petzoldt kann, dann ist Kirche durchaus erheiternd. Wer erkennt sich nicht in dem Familiengottesdienst, in dem man mit den Armen eine Sonne malt und einen Hut, hochspringt und aufstampft, in dem ein Meer aus Handys filmt, was die Kinder vorne spielen (was man von hinten nur erahnt). Auch das „einzigartig stille Örtchen“, das Sakristei genannt wird, kommt einem irgendwie bekannt vor. „Zwischen einer kaputten Holzkrippe vom vorletzten Krippenspiel, halb vollen Abendmahlsweinflaschen, einer Kerzenstumpensammlung und einem Kruzifix mit schiefem Heiland, dran hängen Fotos von Jubel-, goldenen und sonstigen Konfirmanden mit seltsamen Brillen und einer Mode, die gewiss einmal wiederkommen wird.“
Natürlich fehlen auch die Vorstandssitzung nicht und das Gemeindefest und das „Meisterstück zeitgenössischer Gegenwartskunst“, der Schaukasten, und die Abkündigungen, die doch eigentlich etwas ankündigen …
Tobias Petzoldt, Diakon, Kleinkünstler und Autor, hat Beiträge aus seinen Kabarettprogrammen und geistliche Gedanken zusammengetragen. „Heiteres aus dem Gemeindeleben ernst genommen“: der Titel passt. Die kurzen Texte lassen die Liebe zur Kirche erkennen und sind gleichzeitig distanziert genug, um das Schrullige und Sonderbare einer Kirchengemeinde zu erkennen. Sie sind nachdenklich und witzig, tiefsinnig und vergnüglich – und gut geeignet, um zum Beispiel am Gemeindefest (oder einer anderen Gelegenheit aus der „gestalteten Gemeindemitte“) vorgelesen zu werden.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Tobias Petzoldt:
Heiteres aus dem Gemeindeleben ernst genommen
Evangelische Verlagsanstalt 2022, 136 Seiten, 12,00 Euro
Ein Sonett für die Müllerin
Die Autorin Annette Spratte findet ihre Geschichten in der Umgebung, in der sie lebt, im Westerwald. Und sie hat auch ihren unverwechselbaren Ton gefunden, in dem sie erzählt. Die Geschichten entwickeln sehr schnell einen Sog, der einen hineinzieht – diesmal in die Welt einer Mühle in Altenkirchen in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die 30-jährige Sophie betreibt dort mit ihrem Vater die Mühle und hofft, dass das Leben nach dem Krieg wieder besser wird und dass ihr Mann, der sich freiwillig als Söldner verdingt hatte, endlich wieder heimkommt. Als im Mühlengraben die Leiche eines Soldaten entdeckt wird, passieren seltsame Dinge auf dem Hof, und die Geschichte nimmt an Tempo und Spannung zu. Der Autorin gelingt es durch genaue Recherche nicht nur, das Mühlenhandwerk farbig und anschaulich zu schildern, sie ist auch eine Meisterin in der Figurengestaltung. Sophie, ihre Freundin Elßgen, die alte, abergläubische Magd Martha, Konrad, der Lehrling des Müllers – sie werden lebendig und gewinnen schnell die Sympathie der Leserin. Als Sophies Mann nach Hause kommt, zieht in die Mühle nicht die erhoffte Ruhe ein, im Gegenteil. Dietrich entwickelt sich zum Tyrannen, er schlägt Sophie und vergewaltigt sie. Dass es Annette Spratte gelingt, auch dieses Thema so subtil aufzunehmen, mit der damit verbundenen Erniedrigung, der Scham und dem falschen Pflichtgefühl, zeugt von großem Können und Sprachbewusstsein.
Dass in den Büchern von Annette Spratte der Glaube immer auch eine wichtige Rolle spielt, ist nicht nur der Zeit, in der ihre Geschichten spielen, geschuldet. So behutsam und warmherzig, wie sie ihre Figuren schildert, gehören Fragen nach Gott und seiner Hilfe einfach dazu – weil sie menschlich
sind.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Annette Spratte:
Ein Sonett für die Müllerin
Francke Verlag 2022, 427 Seiten, 15,95 Euro
Das Medaillon
Das Medaillon, das dem Buch den Titel gab, hat Rosa von ihrem Mann Itzhak zur Hochzeit bekommen. Als ihre Tochter Ania geboren wird, ist ihre Welt schon lange bedroht. 1938 ist die jüdische Familie gezwungen, ins Warschauer Ghetto zu ziehen, aber auch dort sind sie von Hunger, Zerstörung und Verfolgung bedroht. Als Itzhak sich nach Litauen durchschlägt, um seine Eltern zu suchen, spitzt sich die Situation so zu, dass Rosa ihre Tochter einer Fremden abgibt, um ihrem Kind das Leben zu retten. Sie teilt das Medaillon in zwei Teile und gibt die eine Hälfte ihrer Tochter mit.
Die Autorin Cathy Gohlke hat wahre Begebenheiten aus dem Zweiten Weltkrieg in eine fiktive Geschichte verwoben. Dass Mütter sich entscheiden mussten, ihre Kinder wegzugeben, weil sie sie sonst mit in den Tod genommen hätten, ist belegt. Genauso wie der Fluchttunnel, den jüdische Häftlinge im litauischen Ponary gruben, als sie gezwungen waren, die Leichen der Menschen, die die SS erschossen und in Massengräber geworfen hatte, auszugraben und zu verbrennen. Die Nazis wollten damit verhindern, dass die näherrückenden Russen die Gräueltaten entdecken könnten. Cathy Gohlke fand Interviews, in denen von einem Mann erzählt wurde, der bei diesem Ausgraben der Leichen auf seine Angehörigen gestoßen sein soll und dabei seine Frau anhand eines Medaillons identifiziert habe, das er ihr am Hochzeitstag geschenkt hatte.
Der Autorin gelingt es, diese schier unglaublichen Geschehnisse mit vielen Details und einer einfühlsamen, großartigen Figurengestaltung in eine Geschichte zu gießen, die einen beim Lesen von Anfang bis zum Schluss fesselt.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Cathy Gohlke:
Das Medaillon
SCM Hänssler Verlag 2022, 445 Seiten, 23,00 Euro
Seit ich tot bin, kann ich damit leben
Interviews mit Verstorbenen: das ist zwar keine ganz neue Idee, die der Autor Willi Näf zur Grundlage seines Buches macht, aber so gekonnt, wie er sie umsetzt, werden sie zur außergewöhnlichen Leseerfahrung, inspirierend und unterhaltsam dazu.
Zehn Persönlichkeiten aus der Geschichte lernt man kennen – zunächst in Kurzbiografien, die für sich schon dokumentieren, wie sorgfältig Willi Näf die Geschichten seiner „Interviewpartner“ recherchiert hat. In den nachfolgenden Gesprächen mit den Toten kann er dann „persönlicher“ werden, die Lebensgeschichten aus anderen Blickwinkeln beleuchten und „nachfragen“.
Da ist zum Beispiel Alice von Battenberg, die Schwiegermutter der kürzlich verstorbenen Queen Elizabeth II. Als gehörlose Prinzessin 1885 geboren, ist ihr Leben fast zu turbulent, um es auf wenigen Seiten zu skizzieren. Willi Näf gelingt es trotzdem, und so erfährt man die unglaublichsten Zusammenhänge in der Geschichte des deutsch-englischen Adels und der verrückten, kettenrauchenden Ordensgründerin.
Im gleichen „Dunstfeld“ wie Alice von Battenberg lebte Sarah Forbes Bonetta. Als fünfjähriges afrikanisches Mädchen wird sie davor bewahrt, als „rituelles Opfer“ getötet zu werden und landet – im fernen England auf Schloss Windsor und wächst als Queen Victorias „little negro princess“ auf. Der fiktive Schlagabtausch, zum Beispiel über kulturelle Aneignung, den sich der Autor mit der toten Sarah liefert, ist große Sprach- und Denkkunst.
Besonders interessant sind auch die Geschichten von Mary Ann Graves, eine der wenigen Überlebenden der amerikanischen Auswanderer-Tragödie der Donner-Party; oder die von Elisabeth Christ Trump, der Großmutter des späteren US-Präsidenten; die von James Bedford, dem Mann, der sich als erster tiefgefrieren ließ; oder die von Katharina Morel, die ihrem Mann in den Krieg nachzog und als Marketenderin Napoleons Russland-Feldzug überlebte.
Weniger gelungen ist das Gespräch mit Charles A. Lindbergh Junior, der mit zwei Jahren entführt und umgebracht wurde, und jenes mit der Gottesmutter Maria, das ziemlich bemüht daherkommt.
Willi Näf ist Journalist und Satiriker. In den fiktiven Gesprächen weiß er das Handwerk des Interviewens mit dem Humor und manchmal dem Sarkasmus der Satire perfekt zu kombinieren. Klar, die Interviews sind frei erfunden, aber eben doch nah dran an den Leben der Porträtierten. Der Interviewer erfährt zusätzliche Details ihres Lebens – na ja, er legt sie den Befragten in den Mund. Sie korrigieren ihn, wo sie sich falsch dargestellt sehen und kommentieren auch mal das Zeitgeschehen. Großes und lehrreiches Lesevergnügen!
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Willi Näf:
Seit ich tot bin, kann ich damit leben
Adeo Verlag 2022, 288 Seiten, 22,00 Euro
Der Glaube, die Kirche und ich
Aus der Kirche auszutreten scheint einfach: beim Meldeamt ein Formular ausfüllen und eine Gebühr zahlen – das war‘s. War‘s das? Für die Schriftstellerin Sibylle Knauss jedenfalls nicht. Ihren Austritt – sie ist damals Anfang 50 – scheint niemand in der Kirche zu bemerken oder gar zu bedauern. „So umstandslos entließ man mich aus der heiligen christlichen Kirche, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt? Der Kirche, in der ich mein Heil, Vergebung meiner Sünden und das ewige Leben finden sollte? Und kein Entsetzen darüber, dass ich all das von mir wies? Zumindest Bekümmerung? Oder wenigstens Bedauern. Eine Geste des Abschieds. …“
Sie selbst aber merkt, dass dieser Schritt „nicht zu ihr passt“, dass eine Balance dadurch gestört wurde. Nach einigen Jahren tritt sie wieder ein. Und erlebt von Seiten der Kirche dieselbe Gleichgültigkeit wie bei ihrem Austritt.
Die heute 78jährige Autorin ist eine scharfe Beobachterin. Theologisch gebildet, macht sie sich in ihrem sehr persönlichen Buch auf die Suche nach Spuren göttlicher Gegenwart, in ihrem Leben, im Gottesdienst, in der Kirche. Es ist die Sehnsucht spürbar nach leidenschaftlichem Glauben, nach entschiedener Frömmigkeit. Und gleichzeitig doch immer eine kühle Distanz dazu. „Gebet und Gotteslob halte ich für unentbehrlich, um eine Art existenzieller Balance für mich zu erhalten“ schreibt Knauss, „fühle mich aber in der säkularen Gesellschaft, die mich umgibt, alleingelassen damit.“
Sibylle Knauss hinterfragt, sucht, versteht und zweifelt. Sie erzählt (sich) die Leidensgeschichte Jesu und (man) wird von ihr neu gefangengenommen. Sie feiert Ostern, das jeder Erwartbarkeit spottet, gegen die Natur ist, „wunderbar, unerklärlich und großartig“. Sie ärgert sich über Gottesdienste, in denen Klima- und Weltrettung die Botschaft von der ewigen Seligkeit ersetzt haben. Sie fragt sich, ob die junge Pfarrerin wohl an ihrem Grab „die Kühnheit besitzen wird, davon zu sprechen, dass ich zu Gott heimgekehrt bin? Zum ewigen Leben erwacht? Gehört es nicht zum kirchlichen Markenkern, mir ein postmortales Gericht in Aussicht zu stellen?“
Ein kluges Buch, das die Fragen mehr liebt als die Antworten, aber vielleicht gerade dadurch dazu einlädt, das eigene Bekenntnis zu überprüfen.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Sibylle Knauss:
Der Glaube, die Kirche und ich
Alfred Kröner Verlag 2022, 160 Seiten, 16,00 Euro
Im Dienst der Hoffnung
Friederike Fliedner war tatsächlich eine Frau „im Dienst der Hoffnung“, wie es der Titel des biografischen Romans zusammenfasst. Friederike Fliedner, die als ältestes von sieben Kindern nach dem Tod ihrer Mutter schon so früh Verantwortung übernehmen muss, wird nie ihre Hoffnung auf Gottes Hilfe verlieren. Auch und gerade dann nicht, wenn das Leben sie hart angreift.
Brigitte Liebelt erzählt die Lebensgeschichte Friederike Fliedners, und sie schafft es eindrucksvoll, diese Frau, ihre Familie und die gesellschaftlichen Bedingungen lebendig werden zu lassen. So ist das Buch nicht nur eine spannende Biografie, sondern gibt auch einen guten Einblick in die sozialen Probleme des beginnenden Industriezeitalters und die Entstehung der Kaiserswerther Diakonie.
1828 heiratet Friederike den Pfarrer Theodor Fliedner und folgt ihm nach Kaiserswerth. Er hatte um sie geworben, in der Erwartung, dass sie ihn bei seinen unermüdlichen Einsätzen für die Armen, für Kranke, für Kinder, für alle Bedürftigen, die Gott ihnen anvertrauen wollte, tatkräftig unterstützen würde.
Und das tat Friederike auch. Oft über ihre Kräfte hinaus. Ihr erstes gemeinsames Projekt war ein Asyl für entlassene weibliche Strafgefangene, bald kam eine Kleinkinderschule dazu, weil sie das Übel der Verwahrlosung an der Wurzel angehen wollten. Zusammen entwickelten die Fliedners schließlich das Konzept für ein Diakonissenamt und gründeten die Diakonissenanstalt Kaiserswerth.
Friederike wurde Ausbildnerin der Diakonissen und übernahm bald auch das Amt der Vorsteherin im Diakonissenhaus. Das Buch von Brigitte Liebelt verschweigt nicht die Überforderung bei all den Aufgaben, die Friederike zu erfüllen hatte. Theodor Fliedner war oft auf Reisen, um Spenden einzuwerben, und so war Friederike auf sich allein gestellt mit der Leitung der Anstalt, den vielen alltäglichen Fragen in der Ausbildung der jungen zukünftigen Diakonissen, dem Pfarrhaushalt und ihrer Familie. Zehn Kinder brachte sie zur Welt, nur drei haben das Erwachsenenalter erreicht. An den Folgen der Frühgeburt ihres elften Kindes starb Friederike am 22. April 1842 im Alter von 42 Jahren.
In allen Nöten und Sorgen rechnete Friederike Fliedner jederzeit fest mit der Hilfe Gottes. Ihr starker persönlicher Glaube an den lebendigen Gott gab ihr die Kraft, das enorme Arbeitspensum zu bewältigen, bei allen Zerreißproben nicht zu verzweifeln und „im Dienst der Hoffnung“ zu bleiben. Ein beeindruckendes Glaubenszeugnis!
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Brigitte Liebelt:
Im Dienst der Hoffnung. Friederike Fliedner – die Pionierin der Diakonie
Gerth Medien 2022, 350 Seiten, 20,00 Euro
Kaputte Wörter?
Der Journalist Matthias Heine hat sich 80 Wörter vorgenommen, die problematisch geworden sind. Sie sind „kaputt“, weil sie, so der Autor, „wenn man sie unbedacht benutzt, möglicherweise unerwünschte Kommunikationsstörungen auslösen“. Daraus kann heutzutage schnell ein Shitstorm mit schrillen Tönen werden. „Früher verhallte ein rassistisches oder sexistisches Wort meist im engen Echoraum des Stammtischs, der familiären Kaffeetafel oder der Bierzeltrede“, schreibt Heine, „heute ist der unsympathische Onkel, der allen auf den Wecker geht, weil er darauf beharrt, weiterhin Neger zu sagen, bei Facebook oder Twitter aktiv. Und ihm gegenüber sitzt nicht mehr nur eine einzige Nichte, die gern auch den Rest der Verwandtschaft darüber aufklärt, was man neuerdings – jenseits solcher unumstrittenen No-Gos – alles nicht mehr sagen soll, sondern ein Heer von Sprachwächtern.“
Was in solchen hitzigen Diskussionen meist untergeht, ist ein genauer Blick auf die Wörter, die ausgemerzt werden sollen. Wo kommen sie her? Was war ihre ursprüngliche Bedeutung und was wird heute an ihnen kritisiert? Mit diesen Fragen geht Heine an die Wörter heran und fördert so manch Überraschendes zu Tage.
Er ordnet die Wörter alphabetisch, von A wie Abtreibung bis Z wie Zwerg; er fasst zu jedem Begriff Ursprung, Gebrauch, Kritik und seine eigene Einschätzung zusammen.
Es gibt in dieser Liste Wörter, die sind wirklich „kaputt“. Dass Begriffe wie Fräulein, Liliputaner oder mongoloid nicht mehr im Sprachgebrauch sind, ist gut so.
Es gibt die üblichen Verdächtigen wie: Eskimo, farbig, Indianer, Neger, Zigeuner. Und es stehen auch unerwartete Wörter auf Heines Liste: Altes Testament, Jude, Curry, Weihnachten. Ja, sie sind auch „verdächtig“, und an etlichen Auseinandersetzungen um den „richtigen“ Sprachgebrauch lassen sich, wenn man genauer hinschaut, dann eben auch Irrwege erkennen.
Matthias Heine will zum Nachdenken anregen. Er ist kein Sprachpolizist, sondern einer, der Sprache bewusst macht. Sein Buch ist ein guter Beitrag für eine Versachlichung auf dem „unübersichtlichen Terrain der Sprachkämpfe“.
Rezension von Doris Michel-Schmidt
Matthias Heine:
Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache
Duden Verlag 2022, 302 Seiten, 22,00 Euro
Die Leipziger Mission und die Dalit-Christen in Pandur, Tamil Nadu
Zwei in der Missionswissenschaft diskutierte Fragen bearbeitet Pfr. Jayabalan Murthy von der Tamil Evangelical Lutheran Church, Indien, in seiner Magisterarbeit an der Georg August Universität Göttingen: einmal die in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder geäußerte Frage, inwieweit christlichen Missionsgesellschaften, in diesem Fall die Leipziger Mission, auch kolonialistische Motive bewegten, und zweitens die erst in neuerer Zeit gestellte Frage, wie diejenigen, die durch die Missionsbemühungen Christen geworden sind, die Geschichte beurteilen.
Es ist recht ungewöhnlich, dass eine Masterarbeit veröffentlicht wird, in diesem Fall bieten aber gerade der notwendigerweise begrenzte Umfang und die fokussierten Fragestellungen den „Blick durchs Schlüsselloch“. Wie unter einem Brennglas wird das, was die Kirchengeschichte als „Kastenstreit“ bezeichnet, konkret an einer Gemeinde in einer überschaubaren Region dargestellt. Auch die Zahl der Protagonisten ist klein, sodass es gelingt, einen etwas tiefergehenden Eindruck zu vermitteln. Erfreulich ist es, dass es dem Verfasser gelingt, sich von den Quellen aus dem 19. Jahrhundert in der Darstellung zu lösen, wiewohl er sie erkennbar gelesen hat. Auch zum Hintergrund und der religiösen Verflechtung des Kastenwesens in Indien, sowie der heutigen Situation, kann man Interessantes erfahren, ein wenig Hintergrundwissen ist allerdings Voraussetzung.
Es ist wissenschaftlich gesehen immer spannend, wenn lange geglaubte und gelehrte Thesen infrage gestellt werden. In diesem Fall ist es die Annahme, dass die Leipziger Mission im Gegensatz zur Hermannsburger Mission (und anderen) im 19. Jahrhundert in der Frage des Kastenwesens kompromissbereiter gewesen sei und dass sie damit in gewisser Weise „auf der falschen Seite stand“. Die gegenseitigen Verwerfungen ließen damals auch nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Das hatte damit zu tun, dass in der Hermannsburger Mission der Grundsatz galt – so hat Louis Harms es immer wieder eingeschärft –, dass sich die Verhältnisse nach dem Wort Gottes zu richten hätten und nicht umgekehrt. Darum ging es im „Kastenstreit“ – ein durchaus relevantes Thema im 19. Jahrhundert. Es gelingt nun Jayabalan Murthy zu zeigen, dass es so eindeutig eben nicht war, sondern er kann am Beispiel eines Missionars, Johannes Kabis, aufzeigen, wie das missionarische, diakonische und gesellschaftliche Wirken in diesem Fall zur Überwindung von Kastenschranken beitrug, und zwar, indem es die zu Christen gewordenen „Dalits“, die Unberührbaren, mit Selbstvertrauen und Würde beschenkte, die Kraft zur Veränderung gab. Auch die Rolle der von Missionaren gegründeten Schulen spielt hier eine wichtige Rolle.
Was diese Masterarbeit leider nicht leistet, ist eine vertiefte Einordnung in den kirchengeschichtlichen und konfessionellen Kontext der Leipziger Mission und den Gegensatz zur Hermannsburger Mission, zumal der Verfasser diese Kontexte kennt. Das würden sich Leser aus den Reihen unserer Kirche sicherlich wünschen.
Es ist aber zu hoffen, dass eine in einer Dissertation geleistete Weiterarbeit hier mehr Bezüge bietet. Auf jeden Fall darf man auf eine solche Dissertation gespannt sein.
Rezension von Andrea Grünhagen
Jayabalan Murthy:
Die Leipziger Mission und die Dalit-Christen in Pandur, Tamil Nadu
In: Theologie, Band 121, Berlin 2022, ISBN: 978-3-643-91294-7, Broschüre, 92 Seiten, 29,90 Euro
Kleefelder Notizen
Ein Coffee Table Book für den weihnachtlichen Gabentisch
„Coffee Table Book“ nennt man Bücher, die man auf den Couchtisch legt, damit man beim gemütlichen Kaffeetrinken darin blättern kann. Michael Schätzels „Kleefelder Notizen“ darf ich hier für den weihnachtlichen Gabentisch empfehlen.
Doch von vorn: „Bei uns im Kirchenbüro in Hannovers schönem Stadtteil Kleefeld …“ heißt es gleich zu Beginn auf Seite 11, und damit ist auch der Ton gesetzt. Mit einer wunderbaren Heiterkeit und Leichtigkeit erzählt Michael Schätzel von kleinen alltäglichen Ereignissen, von der Zeitungsfrau, von der Nachbarschaft, von kleinen Lesefrüchten. Die „Kleefelder Notizen“ erschienen in dieser Zeitschrift „Lutherische Kirche“ in den Jahren 2013 bis 2020. Wir haben sie geliebt und schon damals mit Freude gelesen, war es doch immer, als ginge auch am regnerischsten Novembertag für einen Moment des Lesens die Sonne auf. Und unsere Leserinnen und Leser haben diesen liebevollen Blick durch den Türspalt des Kirchenbüros sehr geschätzt. Der christliche Glaube steht bei den Kleefelder Notizen nicht im Vordergrund, sondern im Hintergrund. Damit will ich sagen, dass der Glaube, der den Verfasser trägt, als Grundton auf jeder Seite mitschwingt und klingt, aber sich – sozusagen – nicht in den Vordergrund drängt.
Ach ja, die Illustrationen! Dörte Schätzel hat für jeden Jahrgang der „Kleefelder Notizen“ wundervolle Bilder gestaltet. Weitere Illustrationen sind eingestreut, die die Heiterkeit der dazugehörigen Texte aufgreifen. Die Handschrift der Künstlerin erinnert mich besonders in der Farbgebung ein wenig an Landhausstil – sehr gelungen.
Im zweiten Korintherbrief kann man von „Gehilfen der Freude“ lesen (2. Korinther 1, 24). Für mich sind die Kleefelder Notizen Gehilfen der Freude.
Rezension von Hans-Jörg Voigt
Michael Schätzel:
Kleefelder Notizen - mit Illustrationen von Dörte Schätzel
Herausgegeben von Dörte Schätzel und Christoph Barnbrock
Hardcover, 124 Seiten, ISBN-13: 9783756206469, Verlag: Books on Demand, 18,90 Euro und als E-BOOK 2,99 Euro
Luther übersetzt
Luther übersetzt – das klingt nach Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Tatsächlich präsentiert sich die Geschichte der Bibelübersetzung im Begleitband zur Sonderausstellung „500 Jahre Neues Testament auf der Wartburg“ (4.–6. November 2022) als unabschließbarer Prozess, der bis in die Zukunft reicht. Luthers Übersetzung des Neuen Testaments in die deutsche Sprache wird in diesem Band als bedeutender Meilenstein gewürdigt, weil er Gottes Wort mit der Volkssprache nicht nur erstmals theologischen Laien zugänglich gemacht, sondern auch die junge Buchdruckerkunst mit immer neuen Aufträgen versorgt hat.
In zehn Aufsätzen, die den Erläuterungen einzelner Exponate vorangehen, nähern sich unter anderem Theologen, Kirchenhistoriker, Sprach- und Musikwissenschaftler unter verschiedensten Blickwinkeln der epochalen Leistung der Bibelübersetzung. Sie wird fassbar in den immer neuen Revisionen, die zwischen 1521 und heute gedruckt worden sind und den Wandel sprachlicher, theologischer und gesellschaftlicher Vorstellungen spiegeln.
Aber was heißt überhaupt „Übersetzen“ oder – wie Luther es nannte – „Dolmetschen“? Sicher nicht, den Text Wort für Wort einfach von der einen in die andere Sprache zu übertragen. Der erste Beitrag von Thomas Kaufmann beschreibt, wie sich Luther zwischen griechisch-deutschen Wörterbüchern, älteren zweisprachigen Bibelausgaben und zeitgenössischen Kommentarwerken der eigentlichen Schwierigkeit seines Übersetzungsvorhabens schmerzhaft bewusst wurde und ein leitendes Prinzip finden musste. Er sah es in der rechtfertigenden Tat Jesu Christi und in den entsprechenden Texten des Evangeliums und der Apostel. Gleichwohl brachte jeder neue Begriff die Vieldeutigkeit und Unschärfe älterer Übersetzungen zum Vorschein. Andererseits schien es für einige in Luthers Augen wichtige Sachverhalte noch keinen treffenden Ausdruck zu geben, wie das Beispiel der Übersetzung des Römerbriefs zeigt. Das „allein durch den Glauben“ (Römer 3,28) jedenfalls fand sich in keiner der kirchlich approbierten griechischen oder lateinischen Fassungen des Neuen Testaments. Denn dort war Anschaulichkeit auch noch kein Thema. Erst Luthers volkssprachliche „Wörter- und Wortewelt“, in die der Beitrag des Germanisten Jens Haustein einführt, förderte die nachhaltige Aneignung des Evangeliums und prägte Sprichwörter und Redewendungen wie jene vom „Licht unterm Scheffel“. Diesen altertümlichen Ausdruck für einen Hohlmaß-Behälter einfach durch das moderne Wort „Eimer“ zu ersetzen, wie in einer Revision des Neuen Testaments von 1975, sorgte für viel Spott und war nicht durchsetzbar. Davon berichtet detailreich der lutherische Neutestamentler Christoph Kähler in seinem Beitrag über die Geschichte der kirchenamtlichen Revisionen der Lutherbibel bis 2017, die jeweils mit der grundsätzlichen Herausforderung der „Korrektur eines Klassikers“ verbunden waren. Für die Jubiläumsausgabe wurden nahezu 5000 verschüttete Formulierungen Luthers wieder aufgenommen und somit der „Macht der Worte“ des Reformators Rechnung getragen.
Einen wichtigen Beitrag zur Volkstümlichkeit des christlichen „Klassikers“ leisten aber auch „nicht-amtliche“ Übersetzungen wie die „Gute Nachricht Bibel“ (seit 1968), gesellschaftsbewusste Fassungen wie die „Bibel in gerechter Sprache“ (seit 2006) oder die aus der Jugendarbeit hervorgegangene Nacherzählung „Die „Volxbibel“ (seit 2009). Sie reichen laut Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Dorothee Menke bis zu interaktiven Projekten auf digitaler Basis, die im Internet stattfinden und Bibel-Arbeit zu einer demokratischen Angelegenheit machen.
Abgerundet wird der spannende Streifzug durch die Geschichte der Bibelübersetzungen durch Abstecher in die musikalische Verarbeitung lutherischer Bibeltexte, in die Geschichte des Buchdrucks und in die Welt der frühmodernen Diskussionen um die „Verbesserung“ der Übersetzung. Thematisiert wird nicht zuletzt die Wartburg, die für gut zehn Monate Luthers Bewegungsradius, nicht aber die Weite seiner sprachlichen Leistungsfähigkeit einschränkte.
Insgesamt bietet der reich mit Fotos von Exponaten und Räumlichkeiten illustrierte und einem wissenschaftlichen Apparat ausgestattete Band eine beinahe unerschöpfliche Fundgrube für private oder akademische Erforschung lutherischer Bibelübersetzung zu einem mehr als angemessenen Preis.
Rezension von Anne Heinig
Begleitband zur Sonderausstellung „500 Jahre Neues Testament auf der Wartburg“ (4. Mai bis 6. November 2022)
Luther übersetzt. Von der Macht der Worte.
Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2022, 192 Seiten, 15 Euro